„Halboriginell reicht und ist billiger.“ Das ist ein Satz, der mir von gestern Abend im Ohr geblieben ist. Gesagt hat ihn eine Autorenkollegin, die an einer kleinen privat organisierten Online-Tagung zum Thema „ChatGPT – Wenn künstliche Intelligenz kreativ wird“ teilgenommen hat.
Wir trafen uns auf meine Initiative hin im virtuellen Raum, um uns über Möglichkeiten und Gefahren der neuen Technologie Chat-Bot auszutauschen und darüber zu diskutieren. Die Runde war zusammengesetzt aus Autor*innen von Science-Fiction, Krimis und Kinder-/Jugendbüchern, Kulturvermittler*innen, einer Wissenschaftlerin und einer Verlegerin. Neben einem kurzen Diskurs über politisch-gesellschaftliche Fragen („Ist der Bot politisch links orientiert?“ (s. dazu Link) / „Trägt er dazu bei, dass die Bildungsschere in unserer Gesellschaft noch weiter aufklaffen wird?“) ging es dann vor allem um die Veränderungen, die sich für Autor*innen und die Buchbranche ergeben.
Allgemein spürbar war in der Runde eine gewisse Unsicherheit, wo die Reise hingehen wird. Relativ einig war man sich allerdings darin, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis KIs in der Lage sind, „Coverversionen, die etablierte Muster reproduzieren“ abzuliefern, also das zu schreiben, was schon vor der Causa Weinstein als „Me-too“-Literatur bezeichnet wurde: Romane, die einen erfolgreichen Stoff kopieren, indem sie ihn leicht variieren. Bestimmte Girl meets Boy-Storys seien demnach ebenso betroffen, wie formalisierte Krimiplots oder die hundertste magische Tierschule-Blumenladen-Reihe.
In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob es diese Art der Literatur in Zukunft vielleicht gar nicht mehr geben wird, weil sich ja dann jeder Leser oder jede Leserin von der KI die Wunschgeschichte nach eigenen Vorgaben erzählen lassen kann. Ich musste spontan an ein Zitat von Toni Morrison denken: „Wenn es ein Buch gibt, das du gerne lesen willst, das aber noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.“
Sie hat es vermutlich anders gemeint.
Während dieser Diskussion fiel übrigens auch der oben genannte Satz. Verlage, die heute schon Buchreihen kopieren und sie von ihren Lektoratssssistentinnen schreiben lassen, weil „halboriginell eben auch reicht und vor allem billiger ist“, werden möglicherweise keinen Bedarf mehr für eben jene Lektoratsassistentinnen haben. Deren Job erledigt dann ja die KI. Hier klingt durch, dass die neue Technik nicht nur den Beruf Autor*in fundamental verändern wird, sondern auch die gesamte Buchbranche.
Intensiv diskutiert wurde im Anschluss über die Frage, ob der Bot in Zukunft auch in der Lage sein wird, „originelle Texte zu erschaffen“, mithin, „Literatur-Literatur“ (in Abgrenzung zu Unterhaltungsliteratur) zu schreiben.
Der Abend hinterließ bei mir etliche Aha-Effekte und warf ganz neue Fragen auf.
Wird ChatGPT den Graben zwischen E und U weiter vertiefen?
Außerdem: Google steckt Milliarden in die Entwicklung von ChatGPT. In den USA gibt es seit Jahren einen Rechtsstreit um die Frage, ob die Firma ganze Bücher online stellen darf (s. dazu Link). Hierin steckt gleich ein ganzer Strauß von Urheberrechtsfragen. Wie werden KI-Anfragen à la „Was sagt Susanne Thiele auf ihrem Blog Mikrobenzirkus über Antibiotikaresistenzen?“ vergütet werden? Wird es eine Art VG-Chatbot geben? Erste Forderungen von Verlagen für eine angemessene Vergütung existieren bereits (s. dazu Link). Wenn ich mir ansehe, wie sehr die Gesetzgeber seit Jahrzehnten hinter der Digitalisierung herhecheln, wage ich jedoch, zu bezweifeln, ob es diesmal für die Kreativen positiver ausgeht.
Was für mich an diesem Abend auf jeden Fall mehr als deutlich geworden ist: Wir Schreibende stehen vor der wichtigen Aufgabe, unser Selbstverständnis völlig neu zu denken. Ob wir diese Herausforderung annehmen, wird jede und jeder von uns selbst entscheiden müssen. Ob das eigene Fortbestehen als Autor*in davon abhängt, wird sich zeigen, aber vielleicht heißt es ja bald wirklich frei nach Mark Twain: „Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man sich in wenigen Minuten per KI einen erstellen lassen kann.“
Linkliste:
Ist ChatGPT politisch links orientiert? https://the-decoder.de/chatgpt-ist-politisch-links-orientiert-studie
Google und die Buchwelt: https://www.stern.de/digital/online/darf-google-books-millionen-buecher-einfach-ins-internet-stellen--6803590.html
Verlage verlangen finanzielle Beteiligung:
https://www.wbs.legal/urheberrecht/google-will-kuenftig-ki-antworten-anzeigen-verlage-verlangen-finanzielle-beteiligung-64082/
"Was ist ChatGPT und wie funktioniert es? – Und welche ähnlichen Tools gibt es?" Vortrag von Prof. Dr. Doris Weßels, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der FH Kiel:
https://www.youtube.com/watch?v=cMuBo_rH15c
Das Kreative ist ein Fehler: ChatGPT als Tod des Autors? Christian J. Bauer schreibt bei Literaturcafe.de über das Thema:
https://www.literaturcafe.de/das-kreative-ist-ein-fehler-chatgpt-als-tod-des-autors/
Nick Cave hat sich sehr deutlich zu dem Thema geäußert:
https://www.forbes.com/sites/barrycollins/2023/01/17/nick-cave-savages-chatgpt-for-grotesque-mockery-of-his-songs/
Und, ganz zum Schluss, noch ein hübscher SF-Nerd-Scherz zum Thema, der sich auf Twitter findet:
https://twitter.com/MartinFoertsch/status/1604442074694254592
© 2024 Kathrin Lange | Autorin | Dozentin