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„Jeder von uns hat den ein oder anderen Fall, bei dem es ihn besonders hart trifft.“

Kathrin Lange • 11. November 2019


Am 13. Mai 2019 war ich für einen Tag zu Gast bei Soultalk, einer von Ärzte ohne Grenzen ins Leben gerufenen Initiative, die sich um traumatisierte Geflüchtete kümmert. 2018 haben wir von „Autoren helfen“ Soultalk durch unsere Aktion „Verschenke eine Wohnzimmerlesung“ finanziell unterstützt, und an diesem Tag konnte ich mir ein Bild davon machen, wie die gesammelten Gelder eingesetzt werden. Ein Erfahrungsbericht.

Salah sitzt mit den anderen Mitgliedern des Teams zusammen und bespricht den Arbeitsplan der nächsten Tage, als sein Handy klingelt. Ein Bewohner bittet um einen Termin für ein Gespräch, er könne kaum schlafen. Offenbar hat er Flashbacks. Das gesamte Team geht gemeinsam den Stundenplan durch, um zu schauen, ob irgendwo Zeit für ein Erstgespräch ist. Nach einigem Suchen ist einer der wenigen freien Plätze gefunden, und es entspinnt sich ein Gespräch, das für alle hier völlig normal zu sein scheint. „Wie pünktlich und zuverlässig ist der Klient, weiß das jemand?“, fragt Hannah Zenker, eine der beiden halbtags angestellten Psychologinnen von Soultalk. Niemand weiß es. „Also sag ihm 11.15 Uhr“, rät sie Salah. „Dann ist er um 11.30 Uhr da.“


Salah gibt die Information an den Anrufer weiter. Er spricht ein schnelles Arabisch, das sehr bestimmt klingt. Ein paarmal geht es hin und her, dann scheint alles geklärt zu sein, und Salah legt wieder auf. Er wirkt zufrieden wie jemand, der bei sich selbst angekommen ist.

Kurz zuvor hat er bereitwillig Auskunft über sich selbst gegeben.

Er stammt aus Syrien und ist seit drei Jahren in Deutschland, von der Stelle bei Soultalk hat er über eine Anzeige erfahren und sich beworben. Nun arbeitet er als einer von drei psychosozialen PeerberaterInnen im Ankerzentrum für Geflüchtete in Schweinfurt. Soultalk heißt die Initiative, es ist ein Leuchtturmprojekt, das im März 2017 von Ärzte ohne Grenzen und dem St. Josephskrankenhaus ins Leben gerufen wurde. Hannah Zanker fasst dessen Aufgabe so zusammen: „Es geht darum, Menschen in Notsituationen zu helfen, die psychosoziale Versorgung brauchen. Die medizinische Versorgung von Geflüchteten in Deutschland ist einigermaßen gut, aber im psychosozialen Bereich gibt es viele Defizite. Dagegen versuchen wir bei Soultalk etwas zu tun.“

Sie tun etwas dagegen, indem sie Geflüchtete zu PeerberaterInnen ausbilden. Auf eine kurze Formel gebracht, bieten diese Peers Gespräche an, es geht um präventive Intervention, nicht um Traumatherapie.

„Wir fragen als Erstes: Wie geht es dir?“, erzählt Salah. „Für viele Geflüchtete ist das neu.“ Auf die Frage, warum er diesen Job macht, sagt er: „Wenn man nach Deutschland kommt, dann denkt man, man ist in Sicherheit, aber nicht alle Probleme sind gelöst. Oft kann man nicht so gut mit der Familie reden.“ Eine Pause entsteht, dann schiebt er hinterher: „Ich bin der Vater, ich muss stark sein für meine Familie.“

Es ist nicht der erste Augenblick, in dem ich emotional angefasst bin an diesem Tag. Ein paar Stunden zuvor bin ich mit dem Zug in Schweinfurt angekommen. Ich habe mich entschieden, zu Fuß bis zum Ankerzentrum zu laufen, das sich im Mai 2019 noch in der Ledward Kaserne befunden hat, mittlerweile aber in die zwei Kilometer weit außerhalb liegenden Conn Baracks bei Geldernheim umgezogen ist. Der Eingang auf das Kasernengelände sieht nicht viel anders aus als der von einem Freizeitpark: ein Häuschen, in dem zwei Frauen hinter Glas sitzen, eine Gegensprechanlage, zwei Drehkreuze, eins zum Rein-, eins zum Rausgehen. Selbst die beiden mit Warnwesten uniformierten Männer hinter den Drehkreuzen, die Taschen kontrollieren, kennt man mittlerweile von Großveranstaltungen wie Messen oder Konzerten. Doch damit endet auch schon jede Ähnlichkeit von Freizeitvergnügen. Zu präsent ist der kilometerlange Zaun, der das Ankerzentrum umgibt. Zu sehr sehen die ehemaligen Kasernengebäude und die ebenfalls mit hohem Maschendraht umgebenen Basketballfelder nach „Internierungslager“ aus. Gruppen von Menschen stehen oder sitzen herum, unterhalten sich, langweilen sich sichtlich. Hier hat niemand wirklich etwas zu tun.

Ganz im Gegensatz zu Salah, der, während wir den kurzen Weg zu einem der farbenfroh eingerichteten Beratungsräume gehen, dreimal angesprochen und um Rat gefragt wird.

Wie er seine Aufgabe bei Soultalk sieht, möchte ich von ihm wissen. Er zeigt sich überzeugt, dass die Geflüchteten jemanden brauchen, dem sie ihre Geschichte erzählen können. Jemanden, bei dem sie sehen: Der hat es geschafft, hier anzukommen, also kann ich es auch! In diesem Moment wirkt er so souverän, dass ich mir eine Frage nicht verkneifen kann: Belasten ihn die ganzen Dinge nicht, die er zu hören bekommt?

Statt mir direkt darauf zu antworten, erzählt er mir von einem Fall eines jungen Mannes, der einen Suizidversuch hinter sich hatte, bevor er sich ihm anvertraut hat. Salah ist sichtlich stolz darauf, sagen zu können, dass das seitdem nicht wieder vorgekommen ist.

„Das alles hier hilft mir, die eigene Geschichte zu verarbeiten“, sagt er. „Ich hatte sowas nicht. Ich musste allein klarkommen.“

Das muss Fatima nicht. Sie kommt aus Marokko, wo sie ihre kleine Tochter zurückgelassen hat. Ich würde gern wissen, wie es dazu kam. Kurz zuvor hat Hannah mir erzählt, dass sie hier die ersten Gespräche oft mit der Frage beginnen, was für eine Bedeutung der Name des Gegenübers hat. Das sei sicheres Terrain, weil es kaum Gefahr berge, traumatische Erlebnisse zu triggern. Also stelle ich Fatima meine Frage nicht. Was ich erfahre: Sie trifft sich seit sechs Monaten regelmäßig mit Salah, am Anfang zweimal pro Woche und später dann noch einmal. „Jetzt geht es mir besser“, sagt sie mit einem Lächeln. „ Alhamdulillah .“ Dann erstaunt sie mich, denn sie berichtet völlig ruhig, dass sie letzte Woche die Ablehnung ihres Asylantrags bekommen hat. Am Tag, als der Brief kam, ist sie zu Salah gegangen. Er sei wie ein Vater für sie, sagt sie, er helfe ihr, Wege zu finden, wie sie mit der Situation umgehen könne.

Ich schätze, er ist vielleicht zehn Jahre älter als sie.

Ich möchte von ihm wissen, was es mit ihm macht, wenn seine Schützlinge (wie alle hier nennt auch er sie „Klienten“) abgeschoben werden. Sein Gesicht wird ganz blank, als er erwidert, er halte Abstand dazu, weil er wisse, dass Fatima ihn brauche. Er selbst hat einen sicheren Aufenthaltstitel, das ist wichtig, damit er sich um die Sorgen seiner Klient*innen kümmern kann, ohne ständig an eigene denken zu müssen.

In Syrien war Salah Englischlehrer. Hier würde er gern eine Ausbildung als psychosozialer Berater machen, aber es gibt dabei ein Problem: Es existiert keine staatlich anerkannte Ausbildung für diesen Beruf. Ärzte ohne Grenzen versuche, diese in Deutschland zu etablieren, aber das dauere noch, erzählt Hannah Zanker. Der politische Wille dafür müsse da sein. Auf meine Frage, ob sie glaube, dass dieser Wille im Moment da sei, antwortet sie ausweichend und gleichzeitig beredt, indem sie mir von entsprechenden Advocacy-Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen erzählt. Unter Advocacy versteht man in der Politikwissenschaft die öffentliche Einflussnahme auf die Politikgestaltung stellvertretend für ein kollektives Interesse.

Mein Gespräch mit Fatima endet mit einer Diskussion darüber, ob ich sie von vorn fotografieren soll. Sie wird überraschend vehement, als sie verlangt, dass sie auf meinem Foto zu erkennen ist. Nur mit Mühe und mit vereinten Kräften können wir sie dazu überreden, ihre Meinung zu ändern. Sie habe ihre Heimat verlassen müssen, sagt sie, und da habe sie beschlossen, ihr Gesicht nicht mehr zu verstecken. Und dann sagt sie noch etwas, und sie bittet Salah, es genau zu übersetzen: „Die Realität hier in Deutschland ist nicht so, wie ich gedacht habe. Ich will kein Geld von der Regierung. Ich will arbeiten, nicht Deutschland ausnutzen.“

Sie ist 28 Jahre alt. Sie möchte Altenpflegerin werden.

Mein Blick fällt auf eine Topfpflanze auf dem Tisch. Sie ist ein Geschenk von einem Klienten. Hannah lächelt. „Die Pflanze überlebt seit Monaten unter widrigsten Bedingungen“, sagt sie, „weil wir alle ständig vergessen, sie zu gießen.“

Mit dem Gefühl, dass das traurige Gewächs irgendwie ein Symbol für das Leben der Menschen hier ist, mache ich mich auf den Weg zurück zum Bahnhof. Ich gehe wieder zu Fuß. Am Wegrand hängen überall Plakate, denn die Europawahl steht kurz bevor. Mein Blick fällt auf eines der Wahlplakate der rechtsextremen Partei „Der III. Weg.“

„Europa verteidigen. Grenzen dicht“, steht darauf.

Jemand hat das Plakat vom Laternenpfahl gerissen und in die Büsche geworfen.


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Wer mehr Informationen sucht oder Soultalk mit einer Spende unterstützen möchte, kann dies unter soultalk.info tun.

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