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Sind wir nicht alle Klassenclowns?

Kathrin Lange • 8. Februar 2017

Warum machst du dir eigentlich diesen ganzen Stress? Das ist die Frage, die mir in Zusammenhang mit meiner Flüchtlingsarbeit am häufigsten begegnet. Bisher hatte ich als Antwort darauf meistens nur ein Achselzucken. Aber vorgestern dann habe ich den Stapel Zeitungen und Zeitschriften auf meinem Tisch durchgesehen und "abgearbeitet".

Meistens bleibt bei einem solchen Lesemarathon ein Detail – ein Interview oder zumindest eine Aussage darin – hängen. Diesmal war es ein Satz, den ein Flüchtlingshelfer in Ansbach der Frankfurter Allgemeinen Woche gegenüber geäußert hat. In der Ausgabe 6 vom dritten Februar 2017 steht er: "Das ist eine meiner Motivationen. Ich helfe ihnen [gemeint sind die Geflüchteten in seinem Ort] , und sie kommen dann vielleicht gar nicht auf solche Gedanken, weil es für sie weitergeht."

Hinter den Worten "solche Gedanken" steckt - was sonst – der islamistische Terror. In Ansbach hat sich im Sommer 2016 ein syrischer Flüchtling in einem Biergarten in die Luft gesprengt. Es gab 15 Verletzte, vier davon schwer. Der Attentäter starb.

Klaus W*., besagter Flüchtlingshelfer, geht trotzdem weiter in das Flüchtlingsheim, kümmert sich. Und wird vermutlich dafür, wie überall in Deutschland Hunderte oder sogar Tausende ehrenamtliche Helfer, mitunter verwundert oder verständnislos angesehen. Vielleicht hat er auch Aufkleber mit rechtsradikalen Parolen am Auto oder ewiggestrige Schmierereien auf dem Bürgersteig. Aber davon steht in dem Artikel nichts, denn es geht hier um etwas anderes. Es geht um die Frage, wie wir mit der Bedrohung durch den islamistischen Terror umgehen. In Berlin sind die Menschen nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz erst recht auf die Weihnachtsmärkte gegangen, und auch in Ansbach hat man sich alle Mühe gegeben, so normal wie möglich weiterzumachen.

Weil alles andere bedeuten würde, dem Terror nachzugeben. Und die, die Angst und Schrecken verbreiten wollen, gewinnen zu lassen.

Trotzdem hat mich hat der Artikel nachdenklich gemacht.

Könnte der Terror unseren Trotz nicht sogar noch viel größer werden und in ein ganz neues "Jetzt erst recht!" münden lassen? Was wäre, wenn gerade der Terror (und ich rede jetzt durchaus nicht mehr nur vom islamistischen) die Menschen dazu treiben würde, in die Flüchtlingsheime zu gehen, sich um die zu kümmern, die dort seit Monaten sitzen und wegen Perspektivlosigkeit und Frust auf radikale Ideen kommen?

In den letzten Tagen ist ein sehr berührendes Video aus Dänemark viral gegangen, in dem auf leicht verständliche Art und Weise verdeutlicht wird, dass wir, wenn wir nur bereit sind, genau genug hinzuschauen, mit jedem Menschen auf der Welt Gemeinsamkeiten entdecken werden. Selbst wenn es nur die Tatsache ist, dass beide in der Schule der Klassenclown waren.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat am 13.1.2017 folgende Zahlen veröffentlicht:


Zwischen Januar und Dezember 2016 wurden 321.371 Zugänge von Asylsuchenden im EASY-System registriert. Die tatsächliche Zahl lag laut BMI darunter: nach vorläufiger Berechnung des BAMF könne "von gut 280.000 asylsuchenden Menschen ausgegangen werden".

2015 lag die Zahl der EASY-Registrierungen deutlich höher. Von Januar bis Dezember 2015 wurden im EASY-System 1.091.894 Zugänge von Asylsuchenden erfasst. Auch hier lag die tatsächliche Zahl nach Angaben des BMI darunter: bei rund 890.000 Asylsuchenden.**


Rechnet man mit den höheren Zahlen, bedeutet das, dass 1.413.265 Menschen in den letzten zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind.

Laut Statistischem Bundesamt haben am 31.13.2015 82,2 Mio. Menschen in Deutschland gelebt. Lassen wir die unter 20-Jährigen (18,3 Mio.) weg und auch die über 80-Jährigen (5,8 Mio.) sind das immer noch 58,1 Mio. Menschen***. Würde sich jeder dieser 58,1 Mio. Menschen nur eine Stunde in der Woche um einen einzigen Geflüchteten kümmern, würde jeder von diesen Geflüchteten über vierzig Stunden in der Woche mit Deutschen zusammensein, würde sie kennenlernen, nicht nur als den überarbeiteten Menschen im BAMf, der schlecht gelaunt Unterlagen abstempelt und über die eigene Perspektive entscheiden muss, sondern als Mann, Frau, als Vater, Mutter, Arbeiter, Rentnerin oder eben als Klassenclown …

Klaus W. sagte: "Das ist eine meiner Motivationen. Ich helfe ihnen und sie kommen dann vielleicht gar nicht auf solche Gedanken, weil es für sie weitergeht."

Wenn nur ein einziger Geflüchteter sich durch Klaus W.s Arbeit dazu entschließt, nicht in die nächste Salafisten-Moschee zu gehen, hat der Mann meiner Meinung nach mehr gegen den Terror und für die Sicherheit in unserem Land getan, als alle "Volksverräter"- und "Merkel muss weg"-Brüller auf den Marktplätzen zusammen.

Ich liebe es übrigens, mit einem unserer Geflüchteten zusammen zu kochen. Und mein Mann kann mit einem anderen über Fußball schwadronieren. Über die Frage, wer von uns in der Schule der größere Klassenclown war, müssen wir einmal reden, fällt mir gerade auf.

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* Sein voller Name wird im Artikel der Frankfurter Allgemeinen Woche genannt.

** https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/flucht/218788/zahlen-zu-asyl-in-deutschland#Registrierungen , abgerufen am 7.2.2017

*** Alle Zahlen nach: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen_/... (abgerufen: 7.2.2017)

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